Buch: Peitz, Christian: Wenn Engel Plätzchen backen. Wie Erzählungen und Bilder die Welt erklären. Lüdinghausen 2020.
Ausstattung: Paperback, 242 Seiten.
Inhalt: Der Titel „Wenn Engel Plätzchen“ und das eindrucksvolle Coverfoto eines dunkelroten bewölkten Himmels erinnern mich ebenso wie Christian Peitz an die eigene Kindheit. Meine Mutter erklärte mir damals, die Engel würden Weihnachtsplätzchen backen, und diese Erklärung erschien mir sinnvoll. Heute als Erwachsener weiß ich natürlich, dass sich dieses Himmelsphänomen naturwissenschaftlich ganz anders erklären lässt, und ich weiß, dass ich damals als Kind, mit Piaget gesprochen, noch völlig in einem animistischen Weltbild verfangen war.
Ein großer Verdienst von Piaget war, diese kindliche Weltsicht als eine alternative Perspektive ernst zu nehmen. Und man muss vielleicht zugestehen, dass auch in diesem naiv anmutenden bildlich-magischen Denken eine gewisse Rationalität liegt, wenn auch eine ganz andere als die technisch-praktische Rationalität unserer weitgehend entzauberten Welt. Die Menschheit aber dachte und denkt auch heute noch oft in Bildern und Metaphern; nicht nur die Kinder, auch wir Erwachsene. Genau genommen nutzen sogar die Naturwissenschaften regelmäßig solche Metaphern. Wie sollte man beispielsweise den Begriff des „Urknalls“ anders verstehen als eine Metapher?
Ausgehend von anthropologischen und erkenntnistheoretischen Fragen dieser Art hat sich Christian Peitz auf die Suche nach Antworten begeben, deren Ergebnisse er in diesem Buch vorlegt. Sein Ausgangspunkt bildet folgende Überlegung: „Seit Tausenden von Jahren erzählt der Mensch Geschichten. Das unterscheidet ihn von allen anderen Lebewesen. Der Ursprung dieser Erzählfähigkeit hat mit zwei Eigenarten des Menschen zu tun. Auf der einen Seite verfügt er über das Kommunikationsmedium Sprache, auf der anderen Seite hat der Mensch ein Bewusstsein, das ihm die Möglichkeit gibt, die Welt zu deuten und in eine verstehbare Ordnung zu bringen. Doch wie kam es dazu, dass der Mensch diese Kompetenzen entwickelte und zu erzählen begann?“ (S. 9f.).
Entsprechend dieser umfassenden Fragestellung war es unumgänglich, einen interdisziplinären Ansatz zu verfolgen. Nach der Entfaltung der Ausgansfrage in Kapitel 1 wird in Kapitel 2 erörtert, „wie wir uns die Welt erklären“ (S. 12). Hier referiert Peitz Spracherwerbstheorien und erläutert geschichtlich (von ca. 100.000 Jahren vor unserer Zeit bis heute), wie sich menschliches „Bewusstsein und Erzählungen“ (S. 43) entwickelten. Interessant ist, dass er hier u.a. den Ansatz „Phylogenese = Ontogenese“ aufgreift, der heute zwar wissenschaftlich sehr kritisch gesehen wird, aber als Gedankenspiel noch immer faszinierend ist und insbesondere für die Biographiearbeit interessante Reflexionsperspektiven eröffnet (vgl. S. 28f, S. 51f., S. 61f.).
In Kapitel 3 werden unterschiedliche Funktionen des Erzählens dargestellt, wobei der Schwerpunkt auf der Sage und dem Märchen liegt. Aus märchenpädagogischer Sicht war dieses Kapitel für mich besonders interessant, sodass ich mich anderer Stelle ausführlich damit auseinandergesetzt habe (Geister: Kleine Pädagogik des Märchens, Neuauflage 2021).
In Kapitel 4 werden die Strukturen und Motive der Heldenreise nach dem Mythenforscher Joseph Campbell ausführlich und mit vielen Beispielen dargestellt. Ein Schwerpunkt liegt auf dem Märchen „Hänsel und Gretel“. In Kapitel 5 und 6 werden unterschiedliche „kleine Formen“ (Jolles) des Erzählens dargestellt. Neben dem Märchen sind das die Sage, die Legende, die Fabel, Sprüche und die fantastische Literatur. Abschließend wird an zwei Beispielen das, was hier ausführlich und interdisziplinär entfaltet wurde, nochmals näher erläutert. Das erste Beispiel bezieht sich auf das Märchen „Frau Holle“, insbesondere auf das Motiv des Bettenausschüttelns, das zweite Beispiel auf das eingangs erwähnte Beispiel, das der Studie von Christian Peitz den Titel gegeben hat: „Wenn Engel Plätzchen backen“ (S. 220).
Fazit: Es ist ein sehr anregendes Buch. Eine Fundgrube an interessanten und anschaulich erklärten Theorieansätzen rund um die Frage: Was ist der Mensch? Wie eingangs erwähnt, wird der Mensch als erzählendes und zugleich erzählungsbedürftiges Wesen aufgefasst. Besonders gefällt mir, dass die Leserinnen und Leser durch viele Reflexionsfragen einbezogen werden. So ist es nur konsequent, dass Christian Peitz am Ende seiner Ausführungen keine Antworten gibt, sondern lediglich weiterführende Fragen stellt.