Buch: Peitz, Christian: Hundert Fragen an Dornröschen. Anregungen für Gespräche und kreatives Schreiben mit Kindern. Erste Auflage 2017.

Ausstattung: Paperback, 156 Seiten.

Inhalt: Eine umfassende Deutung des Dornröschen-Märchens aus pädagogisch-philosophischer Perspektive mit vielen didaktischen Vorschlägen zum Philosophieren mit Kindern vom Kita-Alter bis zur sechsten Klasse.

Rezension:
Das vorliegende Buch widmet sich dem Dornröschen-Märchen, eines der bekanntesten und vielleicht auch schönsten Märchen aus der Sammlung Grimm. Dieses Märchen ist aus entwicklungstheoretischer Perspektive bedeutsam, gleichwohl es immer wieder auch scharf kritisiert wurde, vor allem wegen der vermeintlichen Passivität der schlafenden Prinzessin: „hey, dornröschen, / nimm die heckenschere!“, dichtet Annegret Gerdes ironisch und trifft damit den Kern der weniger ironisch zu verstehenden links-liberalen Märchenkritik, die vor den „veralteten Rollenklischees“ in Märchen warnt.

Dass man das Dornröschenmärchen auch anderes sehen kann, ja sehen sollte, zeigt Christian Peitz, dem in seiner märchenpädagogischen Studie ein wahres Kunststück gelingt. Denn neben vielen didaktischen Impulsen legt er hier zugleich eine kenntnisreiche Analyse des Märchens vor mit vielen Querverweisen zu den unterschiedlichsten Interpretationsansätzen und anderen literarischen Texten. Heraus kommt eine kleinschrittige, aber dennoch spannende und gut lesbare Auseinandersetzung mit dem Dornröschen-Märchen, die den Lesern eröffnet, was für ein unglaublich philosophisches Potenzial in diesem auf den ersten Blick eher unscheinbaren Märchen steckt.

Zum Aufbau: Im ersten Teil geht der Autor der Frage nach, welcher Zusammenhang zwischen Märchen, Philosophie und Pädagogik besteht. Es geht um Begrifflichkeiten wie „Resonanz, Fragen und Kreativität“ (S. 13f.), und in dieser Grundlegung widmet er sich verschiedenen Fragearten wie „persönlichen“, „philosophischen Fragen“ oder „Sinnfragen“. In diesem ersten Teil erläutert Christian Peitz überzeugend, inwiefern die Gattung Märchen in besonderer Weise dazu geeignet ist, mit Kindern zu philosophieren. Darüber hinaus macht er deutlich, dass sein nachfolgender Fragekatalog zu Dornröschen nicht nur für Kinder geeignet ist, sondern durchaus auch für Erwachsene.

Das Hauptkapitel „Hundert Fragen zu Dornröschen“ (S. 40-144) gibt das Märchen abschnittweise wieder und setzt sich Schritt für Schritt damit auseinander. Das Kapitel ist folgendermaßen aufgebaut: Es wird zunächst aus dem Grimmtext letzter Auflage von 1857 zitiert. Die Erzählabschnitte werden umfangreich kommentiert und schließlich werden daraus systematisch Fragen abgeleitet, die sich mit Kindern erörtern lassen. Dabei setzt Christian Peitz jeweils thematische Schwerpunkte, die er kenntnisreich mit vielfachen literarischen Bezügen erörtert.

Ein Beispiel: Am Anfang des Märchens steht der Kinderwunsch des Königspaares. Es folgen Ausführungen über das Wünschen und Fragelisten mit Fragen wie: „Was hast Du Dir schon einmal sehnlichst gewünscht?“ oder: „Wie ist es für Dich, wenn sich ein großer Wunsch nicht erfüllt?“ (S. 49). Der Frosch, der die Wunscherfüllung prophezeit, wird ebenfalls näher betrachtet. Hier zeigt sich Christian Peitz nicht nur als profunder Märchenpädagoge, sondern auch als umfassender Märchenkenner auf nahezu allen Gebieten (Philosophie, Literatur, Psychologie, Volkskunde usw.). Hier zeigt sich eine der großen Stärken dieses Buches, weil es einfach auf all diesen Ebenen gut recherchiert ist. Märchenkenner wissen zum Beispiel, dass der Frosch in den ersten Fassungen bei den Grimms noch ein Krebs war. Das wird auch von Peitz thematisiert. Daraufhin benennt er eine Reihe von tiefenpsychologischen Interpretationsansätzen, zum Beispiel von Drewermann oder auch Bettelheim, der den Frosch als „Phallussymbol“ deutet. Weiter verweist Christian Peitz auf die heute als veraltet geltende These der phylogenetischen Entwicklung von Ernst Haeckel, dass ein Fötus während der Schwangerschaft („vom Wasser aufs Land“) wiederholen müsse und bezieht diese auf den ersten Teil des Märchens. Schließlich vergleicht er seine ausgewählten Dornröchen­-Textstellen mit anderen, älteren Märchenversionen, z.B. von Charles Perrault, und erläutert, dass Frösche damals die Funktion eines „Schwangerschaftstestes“ erfüllten: Man injizierte bestimmten Fröschen weiblichen Urin, und wenn sie hormonell reagierten, dann galt die Frau als schwanger.

Diese Fülle an Hintergrundinformationen macht den besonderen Reiz der Studie aus. Sie zeigt exemplarisch, wie unterschiedlich und vielfältig sich Märchen wie dieses deuten lassen. Christian Peitz erklärt dazu, dass diese Fülle nicht verwirren soll, sondern es sich gerade als „günstig“ erweise, „keine eindeutigen Antworten zu kennen“. Denn „wo Fragen noch offen sind, da kann man ihnen nachgehen“ (S. 56).

Anschließend folgt noch eines von insgesamt 12 Schreibspielen, die dazu animieren, Parallelgeschichten zum Dornröschen-Märchen zu schreiben, hier z.B. der Auftrag: „Erzähle die Geschichte des Frosches“ (S. 56).

Im weiteren Fortgang wiederholt sich dieses Schema so oder so ähnlich im Hinblick auf den weiteren Fortgang der Märchenerzählung. Es werden nach und nach didaktisch kleinschrittig eine Fülle von philosophischen Themen abgehandelt, die sich aus dem Märchen wie von selbst ergeben: Es geht dabei unter anderem um folgende Themenkomplexe: Freude (S. 57f.), die Fee als Märchenfigur (S. 61f.) Glücks- und Pechzahlen (S. 62f.), Wut und Rache (S. 69f.), Gerechtigkeit (S. 71f.), Scham (S. 73f.) das Böse (S. 75f.) Erschrecken, (S. 77f.), Berufe (S. 78f), Schutz (S. 81f.), Schönheit und Geschmacksurteile (S. 82f.), Geburtstag (S.90f.), Räume (S. 92f.) Kleidung (S. 96f.), Verletzungen (S. 100f.), Schlafen (S. 102f., S. 125f.), Pflanzen/Dornenhecke (S. 105f.) Namen (S. 106f.) der Tod (S. 109f.), das Scheitern (S. 111f.), Mut (S. 114f.), Glück/gutes Leben (S. 119f.), Zeit (S. 122f.), Regeln (S, 126f.), Küssen (S. 128f.), Liebe / Hochzeit (S. 128f.).

Der Umfang dieser Liste spricht wohl für sich. Wem diese „hundert Fragen“ zu Dornröschen, die tatsächlich, wenn man sie nachzählt, insgesamt etwa 300 Fragen sind, nicht ausreichen sollten, der bekommt im vierten Kapitel noch eine didaktische Hilfestellung, wie man mit Hilfe von zwei Fragewürfen hundert Fragen an Dornröschen formuliert.

Fazit: Ein hervorragendes Buch für die oben genannten Zielgruppen: Märchenpädagogisch Interessierte mit Blick auf den KITA-Bereich, Lehrer/innen der Primarstufe und für die Sekundarstufe I für Deutsch und Philosophie und natürlich für alle Dornröschen-Fans. Für mich ist es die märchenpädagogische Publikation des Jahres 2017.