Buch: Koppehele, Gabi: Handbuch Märchen, Basiswissen zur zeitgemäßen Gestaltung von Märchen. (2012)

Ausstattung: Paperback, 100 Seiten.

Inhalt: Eine kurzes Büchlein, bestehend aus drei Teilen: Hintergrundinformationen zu Märchen, praktische Tipps zur Märchenarbeit in der KITA und eine kleine Textsammlung.

Rezension:
Zunächst wirkt das ansprechend gestaltete Büchlein mit dem Titel „Handbuch Märchen“ spannend. Es verspricht laut dem Titelumschlag „Basiswissen zur zeitgemäßen Gestaltung von Märchen“ und richtet sich an KITA-Erzieher/innen und Grundschullehrer/innen. Entsprechend sind die geweckten Erwartungen hoch.

Das Buch besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil stellt Gabi Koppehele Hintergrundinformationen zum Thema Märchen zusammen. Sie erklärt, was Märchen sind und erläutert nach Max Lüthi die wichtigsten Merkmale. Außerdem nimmt sie Stellung zum Umgang mit Märchen „früher, heute und in Zukunft“ (S. 15f.). Ihre These lautet – etwas verkürzt –, dass Märchen gerade heute für Kinder als Erziehungsmittel wichtiger und aktueller denn je seien, weil wir in einer schnellen und lauten Zeit leben und Märchen als ein wirkungsvolles Gegenmittel fungieren könnten. Ihrem Ansatz zufolge könne man mit Märchen nicht nur psychischen Ängsten begegnen (S. 25f.), sondern Kinder in vielerlei Hinsicht fördern. Sie erläutert beispielhaft die Bereiche „Sprachförderung“ (S. 36), die „Kognitive Förderung“ (S. 37), die „Sozialkompetenz“ (S. 37f.) und die „Wertevermittlung“ (S. 38).

So wünschenswert gute Märchenarbeit schon in der KITA-Arbeit sein mag und so schön es ist, dass die Autorin mit ihrem Enthusiasmus und ihrem immer wieder anklingenden Engagement für die pädagogische Märchenarbeit brennt, so problematisch sind hier leider an manchen Stellen ihre konkreten Ausführungen, weil sie ihre Aussagen nicht immer gründlich genug darstellt und belegt. So läuft die Autorin zumindest in dem eben angesprochenen Kapitel (S. 34f.) Gefahr, das Märchen für von außen herangetragene Bildungszwecke zu instrumentalisieren. Es geht, so scheint es, nicht immer um das Märchen an sich, sondern vor allem als Mittel zum Zweck, z.B. eben um die Förderung von Sozialkompetenz. Dabei lässt sie an zentralen Punkten weniger märchenkundige Leser/innen geradezu allein und überfordert sie. So wirbt sie einerseits stark dafür, auf die Gesamtausgabe der Brüder Grimm zurückzugreifen (vgl. S. 41, S. 99), schreibt aber im Kapitel über die „Förderung der Sozialkompetenz durch Märchen“ Sätze wie: „Zentrale Aspekte finden wir in nahezu jedem Märchen der Brüder Grimm“ (S. 37). Diese Aussage ist zwar grundsätzlich nicht falsch, aber für wenig märchenkundige Leser/innen durchaus problematisch, denn es kommt im Hinblick auf die Zielgruppe gerade bei der Sammlung Grimm sehr auf die richtige Auswahl sowie auf den adäquaten pädagogischen Umgang mit den Märchen an. Man darf nicht vergessen, dass die Grimmschen Märchen nahezu die gesamte Palette von moralisch wünschenswertem und moralisch verwerflichem Verhalten bieten, und nicht immer wird das Gute, Gerechte und Faire belohnt und das Böse bestraft (Beispiele: siehe weiter unten). Zudem gibt es Märchen mit brutaler Gewalt, grausamen Morden und Schändungen. Hier wäre es also äußerst hilfreich gewesen, das zumindest ansatzweise – und sei es nur durch eine Fußnote – zu problematisieren und entsprechend differenzierter darzustellen.

Im zweiten Teil geht es um praktische Tipps für die Märchenarbeit in der KITA. Diese Tipps sind zwar sehr subjektiv gehalten, aber sinnvoll, nachvollziehbar, praktikabel und werden sympathisch vorgetragen. Nur wird die Autorin leider auch hier in punkto Märchenauswahl nicht konkret genug, sondern überlässt es wieder einmal den Leser/innen. Im Kapitel „Das ‚richtige‘ Märchen“ schreibt sie: „Seien Sie beruhigt, bereits die Länge oder der Umfang eines Märchens gibt Ihnen vor, für welche Alters- bzw. Entwicklungsstufe es geeignet sein könnte.“ (S. 42). Glücklicherweise nutzt sie immerhin den Konjunktiv, denn ich nenne direkt einmal zwei Gegenbeispiele: Im Märchen „Frau Trude“ (KHM 43, 29 Zeilen) wird ein Mädchen von einer Frau ins Feuer geworfen und verbrannt, weil es zu neugierig war. Und „Das eigensinnige Kind“ (KHM 117, 12 Zeilen) stirbt im gleichnamigen Märchen (übrigens als „Strafe Gottes“) und wird noch als totes Kind von seiner Mutter körperlich gezüchtigt.

Glücklicherweise gibt es noch einen dritten Teil des Buches mit konkreten „Märchenfavoriten“ der Autorin. An diesen sollte man sich tatsächlich besser orientieren, und man fragt sich, warum sie nicht im ersten Teil schon konkrete Bezüge zu ihren eigenen Märchenvorschlägen hergestellt hat. Die Auswahl ist zwar klein, aber durchaus sinnvoll und mit Altersangaben (die meines Erachtens jeweils ein bis zwei Jahre zu früh angesetzt sind) und knappen, aber hilfreichen Erläuterungen versehen. Konkret sind folgende Märchen abgedruckt: „Der süße Brei“ (KHM 103), „Die Wassernixe“ (KHM 79), „Der goldene Schlüssel“ (KHM 200), „Der dicke fette Pfannkuchen“, „Der Wolf und die sieben jungen Geißlein“ (KHM 5, gekürzt), „Hänsel und Gretel“ (KHM 15), „Rotkäppchen“ (KHM 26), „Hurlebutz“ (Anh. 10), „Die Bremer Stadtmusikanten“ (KHM 27), „Frau Holle (KHM 24), „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“ (KHM 29), „Das Eselein“ (KHM 144) und die „Bienenkönigin“ (KHM 62). In einem Anhang folgen schließlich noch – ohne weiteren Kommentar – ein kleines Märcheneinstiegslied, von der Autorin komponiert, sowie ein sehr knappes Literaturverzeichnis.

Fazit: Ein durchaus praktikables, stellenweise interessantes und gut zu lesendes Büchlein einer Autorin, die zweifellos über viel praktische Erfahrungen in der Märchenarbeit mit kleinen Kindern verfügt. Der Titel „Handbuch“ und der Zusatz „Ideal für die Aus- und Weiterbildung“ wecken aber Erwartungen, denen das Buch leider nicht immer gerecht wird. Zu wenig umfassende, manchmal sogar falsche Informationen (der Tod von Max Lüthi wurde zum Beispiel um 30 Jahre vorverlegt), keine ausreichenden Belege und zu spärliche Literaturangaben. Die vorgetragenen märchenpraktischen Ansätze sind sehr subjektiv dargestellt, aber praktikabel. Insgesamt wäre mehr Wissenschaftsorientierung für ein Buch mit diesem Anspruch wünschenswert gewesen.