Buch: Fleischhauer, Dieter: Tommis Erlebnisse im Märchenland (1998)
Ausstattung: Paperback, 110 Seiten. Mit Illustrationen von Doris Fleischhauer.
Inhalt: Ein Junge namens Tommi reist gemeinsam mit Lissi, einer lieben Hexe, und ihrem Raben Aracks ins Märchenland, um dort Abenteuer zu erleben.
Rezension:
Zugegeben, ein schon recht altes „neues“ Märchenbuch, das ziemlich genau vor 20 Jahren erschienen ist. Aber da der Autor uns jüngst ein Rezensionsexemplar hat zukommen lassen und einen nicht uninteressanten, aber in jedem Fall streitbaren märchenpädagogischen Ansatz vertritt, verdient es unsere Beachtung.
Der Autor Dieter Fleischhauer kämpft seit 1998 für „gewaltfreie Märchen“. Ihm gehe es dabei um „Kinderschutz“, wie er sagt. Er vertritt seine Position so ambitioniert, dass er sich 1999 sogar – freilich vergeblich – an die damalige Bundesregierung wandte, um ein Gesetz zu erzwingen, „welches den Zugang von Gewalt–Märchen zu Kindern verbieten solle bzw. müsse“. Auch eine Strafanzeige beim „Amtsgericht Augsburg gegen das Jugendamt Augsburg, die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften und einem Kinderbuchverlag“ blieb erfolglos. Die einleuchtende Begründung der Staatsanwaltschaft: Bei Märchen handelt es sich um ein Kulturgut. Die Debatte soll hier nun nicht näher verfolgt werden, Fleischhauers Position ist nachzulesen auf Dieter Fleischhauers Homepage, meine Position findet sich in der PDF Achtung böse!.
Hier geht es vielmehr um sein Büchlein „Tommis Erlebnisse im Märchenland“, das als seine Antwort auf diese Debatte angesehen werden kann, nämlich als einen Versuch, Märchen „gewaltfrei“ und „lehrreich“, so steht es auf dem Titelumschlag, zu gestalten. Hatten wir eine solche Debatte nicht schon einmal in der Geschichte der Märchenpädagogik zu verzeichnen? Aber ja doch: schon in den 1970er Jahren, als Otto F. Gmelin das „Böse“ in den Kinderbüchern anprangerte und einige der Grimmschen Märchen politisch korrekt umschrieb. Aber so radikal, dass dieser ein Märchenverbot der klassischen Grimmschen Märchen einforderte, war Gmelin nicht. Wahrscheinlich war für ihn der Wert der Selbstbestimmung einfach nicht verhandelbar. Und so sollte man m.E. auch „Tommis Erlebnisse“ betrachten: als ein Angebot für diejenigen, die sich „lehrreiche“ Märchen „ohne Gewalt“ wünschen.
Tommi, ein Findelkind, das bei einem liebevollen Ziehvater aufwächst, verliert eines Tages seinen Spazierstock und ist darüber sehr traurig. Er wird beobachtet von einem Hexenkind namens Lissi, mit der er sich anfreundet. Zusammen mit Lissi und ihrem Raben Aracks gehen sie auf eine Abenteuerreise durch das Märchenland, um nach dem Spazierstock zu suchen. Dort erleben sie absonderliche Abenteuer und haben zahlreiche wundersame Begegnungen mit märchenhaften Fabelwesen. Sie treffen unter anderem auf einen Schmetterlingsprinzen, auf Lissis Hexeneltern und eine Mäusearmee. Aber das eigentliche Abenteuer geht erst los, als das Kamel Sulaika die Kinder mit einer Botschaft überrascht und sie weiter ins Sumpfblumenland ziehen. Doch die Märchenreise findet auch hier kein Ende, sondern weitere Episoden folgen, zum Beispiel im Märchenlandmeer, im Königreich des Löwenkönigs Tulu und zuletzt im Geschenkeland. Am Ende wird natürlich der Spazierstock gefunden und alles wird gut. Wie genau, soll hier freilich nicht vorweggenommen werden.
Das Buch erzählt ein nettes, langes Märchenabenteuer mit vielen lustigen Einfällen, die Kinder ab etwa 5 Jahren begeistern könnten, wenn sie über ausreichend Konzentration und Geduld verfügen. Sprachlich ist es durchaus ansprechend erzählt, wenngleich die vielen Partizipialkonstruktionen mir auf Dauer ein wenig aufstoßen und in dieser Häufung in sprachlicher Hinsicht nicht unbedingt adressatengerecht sind. Auch finde ich es persönlich schade, dass einige hier anklingende Motive keine tiefere Bedeutung erlangen, wie zum Beispiel die Anfangsepisode (Tommi im Körbchen), die Mundharmonika, auf der Tommi immer wieder spielt, oder eine tiefere Bedeutung des verloren gegangenen Spazierstocks.
Dennoch ist die Erzählung selbst hübsch, fantasievoll und rund, der rote Faden bleibt immerzu erkennbar. Wie angekündigt ist das Märchen völlig „gewaltfrei“ und deshalb fehlt hier ein polares Gut-Böse-Schema, was gar nicht negativ gemeint ist. Das „Lehrreiche“ klingt immer wieder an im betont guten Benehmen der Hauptfiguren, was letztlich ein wenig an die weit verbreitete gesinnungspädagogische Kinderliteratur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts erinnert. Schlimm ist das nicht, aber zwischendurch sehnt man sich schon nach einem etwas frecheren Kindertyp à la Pippi Langstrumpf.
Fazit: Das Buch ist interessant bebildert (leider nicht in Farbe), das Abenteuer ist nett und fantasievoll, aber auch ein wenig seicht. Eine Unterteilung in Kapitel wäre aufgrund des großen Umfangs von 110 Seiten wünschenswert gewesen. Die pädagogische Absicht ist sehr affirmativ und mir zu plakativ, aber mein 5-jähriger Sohn, dem ich das Märchen vorgelesen habe, hörte gerne zu und antwortete auf die Frage, wie ihm das Buch gefallen habe, schlicht mit „gut“.